Protestschrift Empört euch!

Die Protestschrift eines 93-jährigen Résistancekämpfers begeistert Frankreich: Stéphane Hessel wettert gegen Ungleichheit, Finanzkapital, Fremdenhass. Israelkritik ist auch dabei

Stéphane Hessel im Jahr 2008

Stéphane Hessel im Jahr 2008

Ein Heftchen mit dem Titel für drei Euro pro Stück verkauft, ist derzeit der Renner in Frankreichs Buchläden und einigen Supermärkten. Die Auflage nähert sich der Million. Den Aufsatz, umgerechnet eineinhalb ZEIT-Seiten lang, hat Stéphane Hessel geschrieben, ein 93-jähriger Veteran der Résistance. Der temperamentvolle Greis wiederholt darin, was er in öffentlichen Auftritten lächelnd, mit entwaffnender Fröhlichkeit und, man muss es staunend feststellen, sprühendem Elan in einer Weise vertritt, dass ihn Jung und Alt anhimmeln: nämlich dass keine Macht und kein Gott dem Individuum die Verantwortung abnehmen, sich zu engagieren.

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Hessel bezieht sich auf Sartre, den er 1939 in Paris kennengelernt hatte: Jeder ist, als Einzelner, verantwortlich. Und erst im Engagement schafft sich das Individuum selbst. Hessel fährt fort: »Die schlimmste aller Haltungen ist die Indifferenz, ist zu sagen: ›Ich kann für nichts, ich wurschtel mich durch.‹ Wenn ihr euch so verhaltet, verliert ihr eine der essenziellen Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit, sich zu empören, und das Engagement, das daraus folgt.«

In seinem langen Leben habe es nie an Anlässen gefehlt, sich zu empören, schreibt Hessel; in seinen jungen Jahren waren es der Nationalsozialismus und die Besetzung durch die Deutschen. Was wären heute, wo alles komplizierter geworden sei, die Anlässe? »Suchet und ihr werdet finden«, doch um die Suche seinen Lesern leichter zu machen, schreibt Hessel auch gleich auf, was ihn heute empört. Die Diskriminierung der Roma und der Immigranten. Der Gegensatz von Reich und Arm. Die Macht der Finanzmärkte.

Das ist alles recht grob geschnitzt, stellenweise falsch, trifft aber einen Nerv im Land der Égalité. Sowohl die revolutionäre als auch die katholische Tradition Frankreichs stellen den Reichtum unter Dauerverdacht, beiden ist auch die Parteinahme für den bedürftigen Fremden eigen. Selbst die Regierungspartei UMP hat es in ihren eigenen Reihen mit einer linkskatholischen Strömung zu tun, die sich an der Migrationspolitik Sarkozys reibt und ebenso an der Nähe zu den Reichen im Lande.

Frankreichs Empörungspotenzial ist von anderem Kaliber als die latente Hysterie, die deutsche Bürger gegen Bahnhofsplanungen zum »Widerstand« aufrufen lässt. In unserem Nachbarland sagen Protestierende oft von sich, sie seien en colère, also wütend, aber anders als der deutsche Wutbürger sehen sie sich getragen von einer historischen Unterströmung. Seit der Zeit der Fronde in der Mitte des 17. Jahrhunderts hat das Volk alle paar Jahrzehnte mit Straßenschlachten und Aufständen den Mächtigen gezeigt, dass ihre Dominanz nicht selbstverständlich ist.

Dann kam der Einschnitt von 1940, das Versagen der französischen Eliten vor den Nazis. Das hätte, so will es die heutige Geschichtsdeutung, den Austritt Frankreichs aus der Geschichte bedeutet, wenn nicht General de Gaulle jene Empörten von ganz links bis ganz rechts zum Widerstand zusammengeführt hätte. Sie einigten sich auf ein Programm für Frankreichs Zukunft, an das Hessels Aufsatz erinnert: Sozialstaat, Rechtsstaat, Demokratie, Pressefreiheit – und alles das sei jetzt in Gefahr, weshalb wieder die Zeit des Widerstands gekommen sei.

Die Botschaft kommt an. Das überrascht nicht unbedingt. War nicht kurz zuvor ein schmaler Band begehrt, der vom »kommenden Aufstand« sprach? Und davor ein Essay des schwer verständlichen Philosophen Alain Badiou über die Zukunft des Kommunismus? Zurzeit hat das im Sommer uraufgeführte Theaterstück My secret garden des deutschen Dramatikers Falk Richter Tourneerfolg: ein antikapitalistisches Zornstück sondergleichen (und bisher nur auf Französisch existent). Das alles ist Lichtjahre vom Zynismus eines Michel Houellebecq entfernt. Wo dieser angesichts der Gegenwartskrisen kalt und kälter schreibt, fachen die neuen Kritiker des Bestehenden eine Hitze an, die an Jean Paul Marat denken lässt, den radikalen Jakobiner. Das muss wohl auch Stéphane Hessel gemerkt haben, der am Schluss seines Artikels den strikt gewaltfreien Aufstand predigt – was immer das sein soll.

Der Erfolg der Broschüre speist sich freilich noch aus anderer Quelle. Hessel, den die Nazis gefoltert und in Buchenwald gequält hatten, erlaubt sich Äußerungen über Israel, die weniger Untadelige nur allzu gerne hören. Gegen den Judenstaat ist ihm sogar Hamas recht, die er in einen verhinderten Pazifistenverein umdefiniert: »Ich weiß, dass die Hamas, die die jüngsten Wahlen gewonnen hat, nicht vermeiden konnte, dass als Antwort auf die Situation der Blockade und Isolierung, in der sich die Gazabewohner befinden, Raketen auf israelische Städte abgeschossen wurden.« Dass Hessel sich dagegen empöre, dass Israel das einzige Land im Nahen Osten ist, dessen Existenzrecht infrage gestellt wird, davon ist hingegen nichts bekannt.

Jeder soll Partei ergreifen, diese frohe Botschaft verkündet Hessel bei seinen öffentlichen Auftritten, aber das Beispiel zeigt, wohin es führt, wenn die Entscheidung für das Engagement dem Nachdenken vorausgeht. Ein interessanter Fall ist auch Hessels Äußerung »...dass die Juden ihrerseits Kriegsverbrechen verüben können, ist unerträglich«. Nun, Kriegsverbrechen sind immer unerträglich, egal, wer sie begeht. Und nicht etwa schlimmer, wenn die Täter Juden sind.

Woran sich die klassische Frage knüpft, ob solche Sätze auch nach der Person beurteilt werden müssen, die sie schreibt. Wenn im Fall Hessel daran erinnert werden muss, dass es eben keine kontextfreien Botschaften gibt, dann aber auch daran, dass der gleiche Autor im Sommer 2010 zum Boykott israelischer Waren aufgerufen hatte.

Stéphane Hessel: »Indignez-vous!« Indigène éditions; 28 S., 3€

 
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Leser-Kommentare
  1. Ich meine am Schluss von Hessels Aufsatz (Büchleins) gelesen zu haben, dass es auch um einen gewaltfreien Aufstand gegen die Mittel der Massenmedien und deren Inhalte geht.
    Warum wird das so oft unterschlagen in den Massenmedien?

    16 Leser-Empfehlungen
  2. 2. [...]

    Entfernt. Bitte argumentieren Sie sachlich. Danke. Die Redaktion/ew

    Reaktionen auf diesen Kommentar anzeigen

    "Frankreichs Empörungspotenzial ist von anderem Kaliber als die latente Hysterie, die deutsche Bürger gegen Bahnhofsplanungen zum »Widerstand« aufrufen lässt"

    latent: nicht offenkundig, nicht sichtbar, schlummernd, unbemerkt, unmerklich, unsichtbar, unter der Oberfläche, unterschwellig, verborgen, verdeckt, ... DUDEN

    und bevor Herr Gero von Randow einen Satz wie diesen schreibt, sollte er sich doch bitte besser informieren

    Dafür stelle ich ein paar links zur Verfügung:
    http://www.youtube.com/wa...
    http://www.youtube.com/wa...
    http://www.youtube.com/wa...
    http://www.youtube.com/wa...
    http://www.youtube.com/wa...
    http://www.youtube.com/wa...
    http://www.youtube.com/wa...
    und das hier von gestern:
    http://bambuser.com/chann...

    (hoffe, dies ist nun sachlicher geworden)

    Grüße aus Stuttgart

    "Frankreichs Empörungspotenzial ist von anderem Kaliber als die latente Hysterie, die deutsche Bürger gegen Bahnhofsplanungen zum »Widerstand« aufrufen lässt"

    latent: nicht offenkundig, nicht sichtbar, schlummernd, unbemerkt, unmerklich, unsichtbar, unter der Oberfläche, unterschwellig, verborgen, verdeckt, ... DUDEN

    und bevor Herr Gero von Randow einen Satz wie diesen schreibt, sollte er sich doch bitte besser informieren

    Dafür stelle ich ein paar links zur Verfügung:
    http://www.youtube.com/wa...
    http://www.youtube.com/wa...
    http://www.youtube.com/wa...
    http://www.youtube.com/wa...
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    http://www.youtube.com/wa...
    http://www.youtube.com/wa...
    und das hier von gestern:
    http://bambuser.com/chann...

    (hoffe, dies ist nun sachlicher geworden)

    Grüße aus Stuttgart

  3. Dass der jüdischen Attitüde im Spannungsfeld zwischen Gewalt und Legitimation derselben ein bigotter Charakter innewohnt, halte ich für gar nicht so so weit hergeholt. Einerseits lässt sich Israel höchst ungern in die Karten schauen oder gar reden, wenn es um die Durchsetzung eigener Angelegenheiten aller Kritik zum Trotz geht. Andererseits nutzen die Israelis und alle, die sich mit ihnen verbunden fühlen ihren Sonderstatus als "DAS Opfervolk der Weltgeschichte" immer wieder, um sich jeglichen Vorwurfes zu entbinden. Wird das kritisiert, sehe ich darin keinen plumpen Antisemitismus, wie es der Artikel andeutet, sondern einen normalen politischen Vorgang, wie ihn sich heute jede Regierung der Erde gefallen lassen muss.

    Ich bin 20 Jahre alt. Ich weiß genau um die deutsche Vergangenheit und die daraus resultierende Verantwortung, die auch meine Generation trägt, aber ich fühle mich nicht als einen (Erb-)Schuldigen, für den bestimmte Themen gänzlich tabu sind.

    Mir ging es hier weniger um die Verteidigung von Monsieur Hessels möglicherweise unbeholfenen Aussagen als um die Frage, ob Kritik an Israel generell sofort mit einem besserwisserischen Unterton der Political Correctness abgetan werden muss. Ich muss mich einfach fragen: Besteht Bewältigung nicht auch irgendwann einmal darin, das Selbstbewusstsein zu finden, eine eigene Schuld allmählich als getilgt zu betrachten, indem man daran so konsequent wie in den letzten Jahrzehnten arbeitet - ohne sie zuvergessen, wohlgemerkt?

    11 Leser-Empfehlungen
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    "Mir ging es hier weniger um die Verteidigung von Monsieur Hessels möglicherweise unbeholfenen Aussagen als um die Frage, ob Kritik an Israel generell sofort mit einem besserwisserischen Unterton der Political Correctness abgetan werden muss."

    "Israelkritik" ist schon längst nicht mehr durch "unsere Vergangenheit" behindert. Die Darstellung der Araber in dem Konflikt ist in Leitmedien wie Tagesschau etc. sehr viel mehr mit einem "Welpenschutz" versehen, als die "Kritik" an Israel.

    Ich biete Ihnen hier mal einige "Überschriften" und Meinungen zur Israel Politik an, die sie sicherlich schon öfter gehört habe - dazu werden die Darstellung der israelischen Seite und auch faktische Widersprüche aufgezeigt. Diese veritablen Argumente werden Sie sicherlich noch nicht in den deutschen Medien gehört haben.

    http://www.jewishvirtuall...

    Bei anderen Themen kann ich Ihnen zustimmen: die Angst z.B. Kritik des Zentralrat der Juden zu widersprechen (an Politikeräußerungen etc.) mag sicherlich noch "angstbewehrt" sein.
    Für die Kritik an Israel gilt das lange schon nicht mehr.

    "Mir ging es hier weniger um die Verteidigung von Monsieur Hessels möglicherweise unbeholfenen Aussagen als um die Frage, ob Kritik an Israel generell sofort mit einem besserwisserischen Unterton der Political Correctness abgetan werden muss."

    "Israelkritik" ist schon längst nicht mehr durch "unsere Vergangenheit" behindert. Die Darstellung der Araber in dem Konflikt ist in Leitmedien wie Tagesschau etc. sehr viel mehr mit einem "Welpenschutz" versehen, als die "Kritik" an Israel.

    Ich biete Ihnen hier mal einige "Überschriften" und Meinungen zur Israel Politik an, die sie sicherlich schon öfter gehört habe - dazu werden die Darstellung der israelischen Seite und auch faktische Widersprüche aufgezeigt. Diese veritablen Argumente werden Sie sicherlich noch nicht in den deutschen Medien gehört haben.

    http://www.jewishvirtuall...

    Bei anderen Themen kann ich Ihnen zustimmen: die Angst z.B. Kritik des Zentralrat der Juden zu widersprechen (an Politikeräußerungen etc.) mag sicherlich noch "angstbewehrt" sein.
    Für die Kritik an Israel gilt das lange schon nicht mehr.

  4. ... französische schützend vor Menschen.

    Das ist der wesentliche Unterschied, von dem auch Hessels peinliche Sympathie für Hamastan nicht ablenken kann (er hat da möglicherweise ein sehr persönliches Identitätsproblem).

    13 Leser-Empfehlungen
  5. 5. [...]

    Entfernt. Bitte formulieren Sie Ihre Kritik sachlich. Die Redaktion/ew

    • ludna
    • 14.01.2011 um 19:02 Uhr

    "Nun, Kriegsverbrechen sind immer unerträglich, egal, wer sie begeht. Und nicht etwa schlimmer, wenn die Täter Juden sind."

    Juden begehen Kriegsverbrechen ? Man lernt immer dazu.

    Wieviel Platz nimmt die Israel Kritik in dem Buch ein? Etwa die Hälfte, wie in der obigen Besprechung ?

    10 Leser-Empfehlungen
  6. "Mir ging es hier weniger um die Verteidigung von Monsieur Hessels möglicherweise unbeholfenen Aussagen als um die Frage, ob Kritik an Israel generell sofort mit einem besserwisserischen Unterton der Political Correctness abgetan werden muss."

    "Israelkritik" ist schon längst nicht mehr durch "unsere Vergangenheit" behindert. Die Darstellung der Araber in dem Konflikt ist in Leitmedien wie Tagesschau etc. sehr viel mehr mit einem "Welpenschutz" versehen, als die "Kritik" an Israel.

    Ich biete Ihnen hier mal einige "Überschriften" und Meinungen zur Israel Politik an, die sie sicherlich schon öfter gehört habe - dazu werden die Darstellung der israelischen Seite und auch faktische Widersprüche aufgezeigt. Diese veritablen Argumente werden Sie sicherlich noch nicht in den deutschen Medien gehört haben.

    http://www.jewishvirtuall...

    Bei anderen Themen kann ich Ihnen zustimmen: die Angst z.B. Kritik des Zentralrat der Juden zu widersprechen (an Politikeräußerungen etc.) mag sicherlich noch "angstbewehrt" sein.
    Für die Kritik an Israel gilt das lange schon nicht mehr.

  7. 8. [...]

    Entfernt. Bitte verzichten Sie auf NS-Verlgeiche und Unterstellungen. Danke. Die Redaktion/ew

    Eine Leser-Empfehlung
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