Sozialer Abstieg
Großbritannien auf dem Weg zum Armenhaus der EU
Die Löhne der Briten sind seit 2010 so stark gesunken wie kaum irgendwo in Europa. Gleichzeitig wächst die Zahl derer, die nur noch bezahlt werden, wenn überhaupt mal Arbeit da ist. Von Nina Trentmann, London
Niedrig, niedriger, Großbritannien: Seit Mitte 2010 sind die Löhne im Vereinigten Königreich inflationsbereinigt im Durchschnitt um 5,5 Prozent gefallen – das ist einer der stärksten Rückgänge in ganz Europa. Aktuelle Zahlen der Bibliothek des britischen Unterhauses, des House of Commons, zeigen, dass nur die Arbeitnehmer in Portugal, Griechenland und den Niederlanden noch größere Lohneinbußen hinnehmen mussten. Zum Vergleich: In Deutschland stiegen die Löhne im selben Zeitraum um 2,7 Prozent.
"Es ist immer noch ein langer Weg, bis sich die Wirtschaft erholt. Wir wissen, dass die Zeiten für Familien sehr schwierig sind", sagte ein Sprecher des Finanzministeriums in London. Die Labour-Opposition kritisierte die Regierung scharf: "Den Arbeitnehmern geht es schlechter unter den Tories", sagte Schattenministerin Cathy Jamieson. "Die Situation in Großbritannien ist schlechter als in fast allen anderen EU-Ländern. Das Leben für normale Familien wird schwieriger, weil die Preise stärker steigen als die Löhne."
EU-weit sind die Löhne wegen der Wirtschaftskrise in den vergangenen drei Jahren der BBC zufolge um 0,7 Prozent zurückgegangen. In Spanien verdienten Arbeitnehmer 3,3 Prozent weniger, auf Zypern rund drei Prozent. Frankreich verzeichnete ein leichtes Plus von etwa 0,4 Prozent.
Debatte tobt seit Wochen
Die neuen Zahlen fallen in Großbritannien auf fruchtbaren Boden: Seit Wochen tobt eine Debatte um das sogenannte "underemployment", zu deutsch Unterbeschäftigung. Viele Firmen setzen vermehrt auf Teilzeit- und "zero-hours"-Verträge, die den Arbeitnehmern keine feste Wochenarbeitszeit mehr garantieren.
Diese Firmen beschäftigen ihre Angestellten nur noch nach Bedarf: Ist Arbeit da, wird gearbeitet und der nach dem im "zero-hours"-Vertrag vereinbarte Stundenlohn gezahlt. Gibt es keine Arbeit, geht der Arbeitnehmer leer aus.
Laufende Kosten wie Miete und Versicherungen lassen sich davon nur schwer bestreiten. Das Durchschnittseinkommen für einen Vollzeitjob – derzeit etwa 26.600 Pfund, rund 31.100 Euro – erreichen daher immer weniger Briten.
Umgerechnet 30 Euro die Woche
Einer Studie der Universität Stirling und des Dartmouth College zufolge leiden vor allem junge Arbeitnehmer in Großbritannien unter zu wenig Arbeit. "Steigende Lebenshaltungskosten und fallende Löhne sorgen dafür, dass mehr Menschen Überstunden machen wollen", sagt David Bell, einer der Autoren der Studie.
So sei der Anteil der Unterbeschäftigten in Großbritannien von 6,2 Prozent im Jahr 2008 auf knapp zehn Prozent Ende 2012 gestiegen, bis zu 1,4 Millionen Briten gelten als unterbeschäftigt. Gleichzeitig bleibt die Arbeitslosigkeit hoch: Sie lag im Juli bei 7,8 Prozent, wie das nationale Amt für Statistik mitteilte. 2,51 Millionen Briten sind derzeit ohne Arbeit.
Dabei sind es längst nicht mehr nur Call-Center und Servicedienstleister, die versuchen, ihre Lohnkosten zu Lasten der Arbeitnehmer zu senken. Auch Institutionen wie das Odeon-Theater am Leicester Square in London, das Flaggschiff der Kino-Kette aus den 30er-Jahren, arbeitet vermehrt mit flexiblen Verträgen. Wie der "Guardian" berichtete, hat der Großteil der Beschäftigten des Odeon-Kinos inzwischen einen Vier-Stunden-Vertrag, der lediglich ein Gehalt von 25 Pfund (rund 30 Euro) pro Woche garantiert.
"Das Unternehmen leidet nicht"
"Es ist so wenig los, dass ich nur zwei Tage die Woche arbeiten kann", sagt Thomas Pritchard, der mit dem Job im Kino sein Studium finanziert. "Weil wir das Flaggschiff sind, müssen wir oft Extra-Aufgaben erledigen und Hollywood-Stars bei Premieren zu ihren Sitzen führen."
Dafür bekam der 21-Jährige 6,21 Pfund pro Stunde, umgerechnet 7,25 Euro. "Es leiden die Angestellten, nicht das Unternehmen. Einige werden direkt wieder nach Hause geschickt, wenn sie zur Arbeit kommen, weil nicht genug zu tun ist."
Die gesunkenen Löhne und die Unterbeschäftigung treffen die Briten angesichts der jüngsten Sparrunde der Regierung Cameron besonders heftig. Im April traten Kürzungen im Sozialsystem in Kraft, das Gesundheitssystem NHS wird grundlegend reformiert. Finanzminister Osborne bezeichnete das britische Sozialsystem zuletzt als "kaputt" und sagte, es müsse neu organisiert werden.
Krieg der Reichen gegen die Armen
Bewohner von Sozialwohnungen bekommen seit Inkrafttreten der Reformen weniger Beihilfe, wenn sie über ein freies Schlafzimmer verfügen. Mit der sogenannten "Schlafzimmer-Steuer" will die Regierung rund 465 Millionen Pfund im Jahr sparen, mehr als eine Million Haushalte sind betroffen.
Auch die Rechtsbeihilfe wurde gekürzt, so können nur noch Haushalte mit einem Jahreseinkommen von weniger als 32.000 Pfund (rund 38.000 Euro) diese geltend machen. Die Sozialhilfe steigt in den kommenden Jahren nicht mehr in Höhe der Inflationsrate, sondern um ein Prozent, auch wenn die Inflation im Juli mit 2,8 Prozent deutlich darüber lag.
Gleichzeitig senkte die Regierung von Premier David Cameron den Spitzensteuersatz von 50 auf 45 Prozent, Briten mit einem Jahreseinkommen von weniger als 10.000 Pfund müssen keine Steuern mehr bezahlen. Die Labour-Partei kritisierte die Sparrunde dennoch heftig, andere Kritiker sprachen von einem Krieg der Reichen gegen die Armen.
- NATIONALE IDENTITÄT
Als ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen.
- LONDONER CITY
Die Londoner City ist trotz Schrumpfkurs noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze.
- SOZIALES
Großbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen.
- EU-BÃœROKRATIE
Die Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen.
- MEDIEN
Die britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den „Daily Express“ lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister.
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