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Der Lebenskreislauf des Buches

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Auch Bestseller trifft das Schicksal der Makulatur
Auch Bestseller trifft das Schicksal der Makulatur (Bild: Marcus Hoehn / Laif)
Wenn ein Buch nicht mehr genügend Absatz findet, werden die Überbestände eingestampft und als Papierschnipsel rezykliert. Dieses Schicksal trifft nicht nur Ladenhüter, sondern auch Bestseller und preisgekrönte Bücher.
Sibilla Bondolfi

Im Jahr 2010 erschien der Roman «Tauben fliegen auf» von Melinda Nadj Abonji, mit welchem die Schriftstellerin im gleichen Jahr sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis gewann. Als zwei Jahre später die Taschenbuchausgabe auf den Markt kam und der Verkauf der Hardcover-Version drastisch zurückging, begann der österreichische Verlag Jung und Jung damit, die Überbestände zu entsorgen.

Wie ist es möglich, dass ein Bestseller und zweifacher Buchpreisgewinner als Papierschnipsel endet? Die Antwort ist einfach, für den Bücherfreund aber bitter: Das Buch ist nicht nur ein Kulturgut, sondern auch ein wirtschaftliches Produkt, welches den Regeln des Marktes unterliegt. Ein Buch muss verkauft werden, und zwar in dem Masse, wie es im Vorfeld kalkuliert worden ist. Der Kostendruck ist gross. Und so kann es wie bei «Tauben fliegen auf» vorkommen, dass ein Buch durch sich selbst wirtschaftliche Konkurrenz bekommt: «Wenn ein Taschenbuch erscheint, ist dies zwar eine Freude, doch das Hardcover hat dann ausgedient», sagt Dirk Vaihinger, Vizepräsident des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbands (SBVV) sowie Verlagsleiter von Nagel & Kimche. Wenn es sich nicht um ein aufwendig gestaltetes Geschenkbuch oder einen Bildband handelt, greifen Käufer eher zum preisgünstigeren Taschenbuch.

Der Kreislauf des Buches

Der Niedergang des Buches beginnt in den Buchhandlungen. Wenn sich dort ein Buch schlecht verkauft – oder weniger gut als kalkuliert –, schicken die Buchhandlungen einen Teil der Bücher an den Verlag zurück. Dies gehöre leider zum Alltag, so gibt Stefan Fritsch vom Diogenes-Verlag Auskunft. Bei Diogenes kämen etwa zehn Prozent der an den Handel ausgelieferten Bücher zurück – mit steigender Tendenz. Die Verlage versuchen zunächst, die remittierten Bücher über sogenannte Ramschverkäufe loszuwerden. Die Verlage verkaufen die Restbestände an spezialisierte Firmen, welche die Bücher einlagern. Jede Buchhandlung kann bei diesen Firmen Bücher zu günstigen Preisen bestellen und sie entsprechend billig verkaufen, beispielsweise in «Grabbelkisten» vor dem Laden. Zwar ist die «Verramschung» laut Fritsch für den Verlag ein Verlustgeschäft, jedoch sei es immer noch günstiger, als die Bücher zu makulieren. Zudem: «Bücher wegzuwerfen, tut uns Büchermenschen immer weh.» Bevor zu diesem letzten Mittel gegriffen wird, bieten die meisten Verlage kleine Restbestände kostenlos oder zu einem bescheidenen Preis dem Autor an. Dieser lagert die Bücher zu Hause und verschenkt sie an Bekannte oder verkauft sie an Lesungen. Gerade bei wissenschaftlichen Büchern – etwa Dissertationen oder Habilitationen – kommt es häufig vor, dass ein Autor die Restbestände auf dem heimischen Dachboden lagert, bis das Buch an Aktualität verloren hat und im Altpapier landet.

Wenn trotz allen Bemühungen immer noch überzählige Bücher an Lager sind, kommt es zur Makulatur: Spezialisierte Entsorgungsfirmen vernichten die Bücher gegen eine Gebühr in Schredderanlagen. Die Vernichtung ist aufwendig und teuer. «Die Entsorgungsunternehmen verfügen über Einrichtungen, mit denen Einbände und Klebebindungen bei Taschenbüchern entfernt werden und nur das Papier in einen Recyclingprozess gelangt», sagt Fritsch. Die Schnipsel werden zu Altpapier und wieder in Papier verarbeitet: Der Lebenskreis schliesst sich.

Grosse Unterschiede

Bezüglich des Einstampfens differieren die Angaben der Verlage in grossem Mass. Während sich bei Diogenes nach eigenen Angaben die Zahlen im Promillebereich bewegen, gehört das Einstampfen bei anderen Verlagen zum Alltag: «Das ist üblich und geht gar nicht anders», sagt Vaihinger. Verschweigen vielleicht einige Verlage die wahren Ausmasse der Makulaturen, weil sie sich schämen, ein Kulturgut zu vernichten? Vaihinger sieht den Grund für die unterschiedlichen Angaben vielmehr darin, dass die Makulaturrate vom Alter des Verlags und von der Programmgrösse abhänge. In der Schweiz bestehe die Verlagslandschaft im Gegensatz zu Deutschland und Österreich aus vielen kleinen und jungen Verlagen, die noch wenig Lagerprobleme hätten.

Wenn die Verlage älter werden und grössere Auflagen drucken, könnte es zukünftig also auch in der Schweiz vermehrt zu Makulaturen kommen. Dies tut den Autoren weh: Auch wenn eine Makulierung ökonomisch begründet sein möge, handle es sich dennoch um einen «unfreundlichen Akt», sagt der Schweizer Schriftsteller Martin R. Dean. Umso mehr sei es notwendig, dass der Autor von einem geplanten Einstampfen erfahre. «Eigentlich ist es in der Branche üblich oder sogar vertragliche Pflicht, die Autorin oder den Autor zu benachrichtigen», sagt Nicole Pfister Fetz, Geschäftsführerin von Autorinnen und Autoren der Schweiz (AdS). «Wir haben von einzelnen Fällen gehört, in denen dies nicht passiert ist.» So war es auch bei Nadj Abonji. Nur durch eigene Interpretation der Halbjahres-Abrechnung kam sie darauf, dass offenbar Bücher makuliert worden waren. Der Verlag versäumte es – trotz entsprechender vertraglicher Regelung –, sie vorher persönlich zu informieren. Nadj Abonji entging dadurch die Möglichkeit, die Bücher selbst zu erwerben.

Das Ende des Buches

Als Nadj Abonji von der Teilmakulierung ihres Buches erfuhr, setzte sie durch, dass sie etwa 400 Exemplare mithilfe einer Nichtregierungsorganisation nach Serbien – ihrem Geburtsland – transportieren und dort an Gymnasien und Bibliotheken verschenken durfte. Auch der Schweizer Schriftsteller Dean fand eine alternative Lösung, als der Hep-Verlag sein Gymnasiallehrbuch über interkulturellen Deutschunterricht wegen der Lagerkosten einstampfen wollte: Er konnte mit Erlaubnis des Verlags einige Exemplare gratis an Gymnasien verteilen. Wenig überzeugt von solchen Rettungsaktionen ist hingegen Vaihinger: «Das ist mir eine vollkommen neue Idee.» Bücher zu verschenken, sei in den seltensten Fällen sinnvoll, denn Autoren und Verlage lebten vom Verkauf. Für Autoren hat das Buch jedoch meist einen über den monetären Aspekt hinausgehenden Wert. «Ein Autor schreibt nicht einfach nur ein Buch, sondern ein Werk», meint der Schriftsteller Dean. «Dieser Gedanke geht jedoch zunehmend verloren.»

Auch Privatpersonen entsorgen aussortierte Bücher im Altpapier, wenn Brockenhäuser sie nicht übernehmen wollen. Literarischen Werken ergeht es heute folglich wie jedem gewöhnlichen Konsumprodukt: Bei Überproduktion oder nach Gebrauch wird es weggeworfen und wiederverwertet.

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