Steve Rose
04.01.2013 | 18:15 2

Das letzte Bollwerk

Zivilcourage Ob in London, Amsterdam, Rio, Mumbai oder Caracas – junge Hausbesetzer haben es nicht verdient, kriminalisiert zu werden. Denn sie übernehmen soziale Verantwortung

Das letzte Bollwerk

Foto: Martin Godwin/ The Guardian

Am 26. September 2012 wurde Alex Haigh als erster Angeklagter in Großbritannien nach Artikel 144 des Gesetzes über Rechtsbeihilfe, Verurteilung und Bestrafung (Legal Aid, Sentencing and Punishment of Offenders Act) zu einer Haftstrafe verurteilt. Seit dieses Gesetz im September in Kraft trat, kann man Tausende des Vergehens für schuldig erklären, für das Haigh verurteilt wurde. Der 21-Jährige hatte sich im Londoner Stadtteil Pimlico in einem Haus einquartiert, das über ein Jahr leer stand. Alex war ein Squatter, ein Hausbesetzer. Nach London hatte es ihn verschlagen, um Arbeit als Maurer zu finden. Nun ist er vorbestraft.

Als das Besetzen unbewohnter Wohnhäuser zur Straftat erklärt wurde, hielten viele Briten das für gut. Aber stellen Hausbesetzer wirklich eine Gefahr für die Gesellschaft dar? Grant Shapps, Vizeparteichef der Konservativen, hat eine genaue Vorstellung von Squattern: Das seien Leute, die einem das Haus klauen, während man gerade im Urlaub sei. Als Shapps die Gesetzesnovelle im Guardian verteidigte, zitierte er Vorfälle, die kurz zuvor durch die Presse gegangen waren. Etwa das Beispiel von Oliver Cockerell, einem Arzt, in dessen Haus einfach Leute eingezogen waren, als es gerade renoviert wurde. Seine Frau war damals schwanger. Dr. Cockerell geißelte „Banden von Anarchisten und Osteuropäern“. Grant Shapps sekundierte und beschrieb besetzte Häuser als „Todesfallen der Verzweiflung“. Das romantische Ideal „der gemeinschaftlichen Harmonie und eines Lebensstils der Gegenkultur“ sei eine Illusion“, erklärte er.

Revanchistische Stimmung

Ein derart negatives Urteil hat viele empört, die schon lange Hausbesetzer sind. Leute wie Joe Blake oder Reuben Taylor etwa, beide 20 Jahre alt. Sie leben in einer alten Gärtnerei in der Nähe des Flughafens Heathrow. Ihr Projekt Grow Heathrow ist alles andere als eine „Todesfalle der Verzweiflung“. Die Gruppe um Blake und Taylor – etwa 17 Personen – haben den Ort von 30 Tonnen Abfall befreit, baufällige Gewächshäuser instand gesetzt, um darin leben zu können, und Gemüse angebaut, das sie über Händler verkaufen. Sie betreiben eine Fahrradwerkstatt und veranstalten Workshops für Kunsthandwerk – sie machen sogar die Gartenarbeit für das lokale Wahlkreisbüro. Und sie haben niemanden seines Wohnorts beraubt. Blake und Taylor sind zudem Mitglieder von Squatters Action for Secure Homes (Squash), die eine Kampagne gegen Artikel 144 führt. Sie sagen, wenn Menschen das Haus gestohlen wurde, dann sei dafür nur ein kleiner Teil der etwa 40.000 britischen Hausbesetzer verantwortlich. Alle anderen lebten größtenteils in seit langem verlassenen Gebäuden.

Joe Blake sagt bei einer Tasse Tee in dem als Küche eingerichteten Gewächshaus von Grow Heathrow, die Konservativen hätten mithilfe einiger Medien moralische Panik geschürt. Artikel 144 sei auf den letzten Drücker durch das Parlament „geschmuggelt“ worden. „Was man nicht hört, ist die Geschichte der schwangeren Besetzerin, die auf die Straße geworfen wird. Wir meinen, dass dieses Gesetz allein skrupellose Vermieter schützt, die ihren Besitz leer stehen lassen.“

Hans Pruijt von der Erasmus-Universität Rotterdam hat das Hausbesetzertum in Europa untersucht. Ja, es sei leicht, mit diesem Thema moralische Panik zu schüren. In den Niederlanden, einem Land mit einer toleranten Tradition, wurde im Oktober 2012 ein ähnliches Gesetz wie in Großbritannien erlassen. In Spanien wurde das Besetzen von Häusern mit Terrorismus in Verbindung gebracht, bevor es verboten wurde. Immer seien es rechte Regierungen, die so rigoros agieren, hat Pruijt beobachtet. „Ich denke, sie folgen einer revanchistischen Stimmung in der Politik. Alles, was die Leute hassen, wird auf weiche linke Politik der Sechziger und Siebziger geschoben – auf die Einwanderung, die Hausbesetzer und die Moslems. Man rächt sich für Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind.“

Die großen Haus- und Landbesetzer-Bewegungen der letzten 50 Jahre waren immer politisch. Als Student habe ich selbst nach 1990 drei Jahre in einem besetzten Haus im Osten Londons gewohnt. Die Hauptstadt war extrem teuer und das Quartier in einem besetzten Haus eine billige Alternative. Dass dieses Wohnen irgendwie gegenkulturell erschien, machte den Mangel an Glamour oder Hygiene wett. Und die politische Komponente: Seinerzeit entstand wegen einer geplanten Trasse als Zubringer zur Autobahn M11 eine Bewegung gegen Straßenbaupläne der konservativen Regierung. Wir wohnten umsonst, kämpften damit aber auch gegen die Zerstörung eines Kiezes – unsere Claremon Road wurde zum letzten Bollwerk. Im Dezember 1994 – ich war bereits weggezogen – brauchten Hunderte Polizeibeamte Tage, um die gewaltlos protestierenden Hausbesetzer zu entfernen. Was vor 20 Jahren eine Form des Protestes war – die Aneignung des öffentlichen Raumes – hat heute die Occupy-Bewegung wieder aufgegriffen, auch wenn es sich bei deren Aktionen eher um eine symbolische Form der Besetzung handelt.

Während es in Europa immer weniger Haus- oder Landbesetzer gibt, werden es in anderen Teilen der Welt immer mehr. Laut einer UN-Schätzung leben aktuell 800 bis 900 Millionen Menschen und damit zehn Prozent der Erdbevölkerung unerlaubt auf Ländereien oder in Gebäuden, die ihnen nicht gehören und sind streng genommen Besetzer. Größtenteils handelt es sich um Menschen, die vom Land in die Städte eingewandert sind und sich an deren Peripherien niederlassen. Die Frage, ob sie der Gesellschaft damit nutzen oder nicht, erübrigt sich – sie sind die Gesellschaft. Im indischen Mumbai sind 60 Prozent der Einwohner Slumbewohner – in manchen türkischen Städten 50, in brasilianischen Metropolen 20 Prozent.

Slums, Favelas, Bidonvilles – die unerlaubten Ansiedlungen haben viele Namen. Oft werden sie als düstere Orte dargestellt, in denen es nicht nur makabere hygienische Bedingungen, sondern ebenso eine Drogenmafia und hohe Verbrechensraten gibt. Oft treffe das so gar nicht zu, meint Robert Neuwirth, Verfasser des Buches Shadow Cities: A Billion Squatters, a New Urban World. Der Autor hat zwei Jahre in Slums gelebt, die zu den größten der Welt zählen: In Mumbai, Nairobi, Istanbul und Rio de Janeiro. Wer dort existieren müsse, sei nicht kriminell. „Es sind gesetzestreue Bürger. Leute, die an Hoteltischen die Bestellungen der Touristen entgegennehmen und die Zimmer putzen. Man hilft einander, wo es geht. Abgesehen davon, dass es an diesen Orten keine Kanalisation gibt, kann man dort wunderbar leben.“

Was nichts daran ändert, dass Slum-Bewohner Bürger zweiter Klasse bleiben und Schikanen ausgesetzt sind. In Rio de Janeiro werden im Vorfeld der Fußball-WM 2014 und von Olympia 2016 Favelas niedergerissen. In anderen Fällen haben sich provisorische Siedlungen zu permanenten Quartieren entwickelt, wie es auch im präindustriellen Europa geschah. Das Viertel Rocinha in Rio gilt zwar als Favela, ist aber nicht mehr als solche zu erkennen. Es gibt mehrstöckige Gebäude, sanitäre Anlagen und Elektrizität. „Wo immer es ihnen möglich ist, findet man Leute, die ihre Häuser ausbauen, Wand für Wand“, erzählt Autor Robert Neuwirth. „Sie sparen und machen aus Schlamm Pappe ...“

Pappe aus Schlamm

Unterscheidet sich das gravierend von dem, was man in Europa unter Hausbesetzertum versteht? Im Zentrum von Caracas steht der Torre David, ein 45 Stockwerke hoher Bankentower, an dem die Bauarbeiten aufgegeben wurden, als sie erst zur Hälfte abgeschlossen waren. Nun leben dort annähernd 2.500 Hausbesetzer. Sie sind eingezogen, haben das Gebäude teilweise zu Ende gebaut und unterteilt. Der „vertikale Slum“ beherbergt nun auch Läden und verfügt über Wasser sowie Strom. Nur Aufzüge gibt es noch nicht.

Was diese so ungleichen Formen des Hausbesetzens in Lateinamerika, Asien und Europa verbindet, ist die Fähigkeit, sich zu organisieren und Eigeninitiative zu ergreifen. In Entwicklungsländern handle es sich um einen „bemerkenswerten Akt der Eigenständigkeit von Menschen, die einem System gegenüber stehen, das ihnen keinen bezahlbaren Wohnraum bieten kann“, sagt Neuwirth. Auch auf Hausbesetzer in Großbritannien oder in den USA träfe das zu. „Wir sollten das begrüßen, statt eine schreckliche, kriminelle Handlung darin zu sehen.“

„Das Grundparadigma unserer Zeit“ erkennt auch Hans Pruijt aus Rotterdam in dem Gebot: „Wir sollten uns nicht so sehr auf den Staat verlassen, sondern selbst Verantwortung übernehmen. Die Hausbesetzer haben das vorgemacht.“

Dass ein Verbot des Squatting dem britischen Steuerzahler etwas bringt, lässt sich bezweifeln. Squash rechnet damit, dass ein solches Verbot die öffentliche Hand in den ersten fünf Jahren 790 Millionen Pfund kosten wird, da die Ausgaben für die Rehabilitierung Obdachloser, für Wohngeld und andere staatliche Leistungen steigen. Hinzu kämen polizeiliche Ressourcen, die für den Schutz von Immobilienbesitz und Räumungen aufzubringen wären, sowie die Gerichtskosten für Klagen und Prozesse.

In den Niederlanden hat sich inzwischen etwas etabliert, das auch auf Großbritannien zukommen dürfte. Beim Anti-Squatting erhalten ein paar Besetzer die offizielle Erlaubnis, leerstehende Gebäude zu bewohnen. Damit soll vermieden werden, dass echte Hausbesetzer einziehen. Diese Anti-Squatter zahlen in der Regel eine symbolische Miete, verzichten aber auf grundlegende Rechte: Potentiellen Käufern müssen sie jederzeit Einlass gewähren. Anti-Squatter können von jetzt auf gleich rausgeworfen werden. Im Grunde sind sie ebenso Bürger zweiter Klasse wie Slumbewohner in einem Entwicklungsland – dennoch ist Anti-Squatting eine bessere Option als die Haftstrafe für Besetzer, wie das die britische Regierungskoalition will.

Letztendlich stehen im Streit um Haus- und Landbesetzer denjenigen, die das Privateigentum für heilig halten, denjenigen gegenüber, die dem Recht auf eine Unterkunft einen höheren Stellenwert beimessen. Wenige Hausbesitzer würden wohl eine Immobilie, die sie besitzen, aber nicht nutzen, Hausbesetzern zur Verfügung stellen. Genauso wenig lässt es sich aber moralisch rechtfertigen, wenn in einem Land wie Großbritannien 930.000 Häuser leer stehen, während gleichzeitig Menschen auf der Straße schlafen.

Kommentare (2)

abghoul 06.01.2013 | 09:28

Zum Glück gibts solche Leute schon seit ewig. Es ist wohl eine Frage der Gesinnung.
Schon in der Steinzeit haben Leute Höhlen zusammen gelebt und keine Miete bezahlt.
Und das ist auch gut so. Hier mal eine kleine Anekdote zur Illustration, so etwa gegen '88:

Es war alles erstmal sehr unangenehm, überall Muskelkater und Prellungen.
Viel zu hell um irgendwas zu sehen und alles klebte, ich war von Kopf bis Fuß mit grüner Wandfarbe überzogen.
Stimmen um mich herum sprachen leise in einer völlig unverständigen Sprache.
Auf welchem Planeten bin ich denn nun gelandet, fragte ich mich.

Utrecht, sozusagen in einer Squatterkolonie auf einem stillgelegtem Industriegelände, haben mir die Punks später erklärt. Irgendwer hätte mich mitgebracht, wahrscheinlich von einem Konzert, und frisch angekommen hätte ich mir einen Eimer grüne Farbe über den Kopf gekippt und wär mit 10 Meter Anlauf gegen die Wand gesprungen.
Mein Abdruck hat ziemlich Eindruck hinterlassen, konnte ich mir später ansehen.

Was auch immer damals passiert war, die haben mir den Arsch gerettet und neue Klamotten gestiftet.
Die gute Kutte *schwärm*
Und nicht mal später eine Rechnung geschickt.

greetings from the pit - abghoul

twiga 06.01.2013 | 13:43

Neben dem Interview mit Negt der zweite wirklich interessante Artikel, vielen Dankl dafür! Es macht Hoffnung auf mehr - denn was in Spanien und mittlerweile auch in Deutschland passiert, kann nicht hingenommen werden. Es ist wichtig, dass sich die Menschen wieder mobilisieren und wehren. Sich brav lenken zu lassen bringt nichts mehr ein, der Preis der dafür gezahlt wird, ist mittlerweile zu hoch und leidvoll.