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Die Zeit 29/2000

Präzise Unschärfe

Vor 35 Jahren erhob Lotfi Zadeh die Ungenauigkeit zur Wissenschaft. Heute hat die Fuzzy-Logik unzählige Anwendungen gefunden.

Von Annette Leßmöllmann

Fuzzy bedeutet unscharf, vage oder kraus und klingt dem Englisch sprechenden Menschen nicht richtig gut im Ohr. Anfang der neunziger Jahre war das Wort dennoch sehr in Mode, die Japaner kürten es 1991 gar zum "Wort des Jahres". Das Zauberwort hatte ihnen einen wirtschaftlichen Erfolg beschert: Mit der geheimnisvollen Fuzzy-Regelungstechnik bauten sie "intelligente" Getriebe, Videokameras und Waschmaschinen, und bald schrieben auch Siemens, Bosch und General Electric das Wort fuzzy auf ihre Werbeplakate.

Heute ist es still geworden um das krause Wort. Ist es von neuen Modewellen weggespült worden, vergessen wie das einst so begehrte Tamagotchi? "Es ist zu etwas Selbstverständlichem geworden", sagt Lotfi A. Zadeh, der Pionier der Fuzzy-Logik, dem die Universität Hamburg dieser Tage die Ehrendoktorwürde verlieh; "das heißt nicht, dass das Interesse daran nachgelassen hat." Ein böses Wort ist salonfähig geworden - wie hat es das gemacht?

Menschen denken ungenau und kommen damit sehr gut durch. Sie können Autos parken und Reis kochen, ohne eine mathematische Theorie über diese Tätigkeiten zu haben. Ihre Sinnesorgane nehmen die Temperatur des Wassers oder die Nähe zu einem parkenden Auto nicht exakt, sondern nur ungefähr wahr: "Es ist heiß" oder: "Das war aber verdammt knapp!" Sie kochen und parken mit ihrem Alltagswissen, das aus Anweisungen besteht wie "jetzt die Temperatur ein bisschen runter" und "noch ein Ideechen weiter links". "Ein bisschen" und "ein Ideechen" sind vage Angaben, die im Alltag niemanden stören. Aber Mathematikern und Technikern sind sie ein Gräuel, denn die wünschen sich präzise Angaben für ihre Maschinen.

Doch 1965 beschloss ein Elektrotechniker, die Unschärfe hoffähig zu machen. Lotfi Zadeh, damals Professor an der kalifornischen Eliteuniversität in Berkeley, überraschte sein Fach mit der Ansicht, alles sei a matter of degree, eine Sache des Grades. Die klassische Mengenlehre, meinte Zadeh, tue der Welt Unrecht, wenn sie sagt: Etwas ist rot oder nicht rot, heiß oder kalt, und dazwischen gibt es nichts. Wie beschreibt diese Mengenlehre nicht richtig rote Objekte und schon etwas lauwarmen Kaffee? Zadeh, der die strenge technische Universitätsausbildung am MIT und an der Columbia University durchlaufen hatte, erdachte eine Theorie der unscharfen Mengen, die Randexistenzen zulassen: so wie auch Menschen manchmal rosa Dinge zu den roten zählen.

"Fuzzy" nannte er diese Mengenlehre, und handelte sich mit diesem Wort eine Menge Ärger ein. Die Akademia jaulte auf: Was soll dieses krause Zeug? Wissenschaft hat exakt zu sein, sonst ist sie keine Wissenschaft! Eben, sagt Zadeh bis heute, ich beschreibe das Ungenaue, aber auf genaue Weise. Die Fuzzy-Mengenlehre weicht der Beobachtung nicht aus, dass Wahrheit nicht immer absolut ist: Hans ist groß, und Max ist groß, aber Hans ist ein bisschen größer als Max, sodass in Hansens Fall die Aussage, dass er groß ist, ein Körnchen mehr Wahrheit enthält als bei Max. Und genau das erfasst Zadehs Theorie auch mathematisch. Er selbst legte sich ein dickes Fell zu, denn 25 Jahre lang glaubte ihm niemand so recht, dass eine Theorie des Vagen eine präzise Theorie sein kann.

In den siebziger Jahren erdachte er dann die Fuzzy-Logik, die auch mit vagen Prämissen auskommt. Zadeh legitimierte dabei die Milchmädchen-Logik, die nach dem Motto funktioniert: Schlage ich das Lenkrad genug ein, dann schaffe ich es so gerade in die Parklücke. Die klassische Logik liebt Worte wie "genug" und "so gerade" nicht und hat sie deswegen gern ignoriert, aber Zadeh sagt: Wer die Ungenauigkeit der Sprache wegkürzt, der kann nichts Relevantes über die Sprache sagen, denn natürliche Sprache ist nun mal ungenau.

Logiker und Linguisten waren überhaupt nicht glücklich mit Zadehs Begriffen und traktierten sie in den Fachjournalen mit Gegenbeweisen. Aber die Fuzzy-Ideen hatten nicht nur ein theoretisches Gesicht, sondern auch ein praktisches: Bei Informatikern und Elektrotechnikern stießen sie auf Gegenliebe, und in den achtziger Jahren endete Zadehs undankbare Rolle als Prediger in der Wüste.

Allen voran baute die japanische Industrie Geräte mit Fuzzy Control. Diese Art der Prozesssteuerung arbeitet mit unscharfen Regeln, die auch ein Mensch benutzen könnte, zum Beispiel: "Wenn die Wäsche sehr schmutzig ist, dann gib etwas mehr Waschmittel dazu." Die Geräte analysieren dabei die Schmutzsituation wie der routinierte Hausmann: Sie zählen nicht jeden einzelnen Partikel und rechnen nicht mit komplizierten Gleichungen. Vielmehr prüfen sie nur, ob die Wäsche wenig, normal oder sehr verschmutzt ist. Dabei hilft eine ausgereifte Sensortechnik, deren Entwicklung parallel zum Boom der Fuzzy-Regelung verlief. Stopft jemand Wäsche in die Trommel, die etwas mehr als normal verschmutzt ist, dann versucht die Maschine die Situation nicht exakt zu analysieren, sondern gibt nach ihren Regeln eben "etwas mehr als normal" Waschpulver zu. Präzision, sagt Lotfi Zadeh, ist der Feind der Relevanz.

Viele Fuzzy-Anwendungen könne man auch mit anderen Methoden verwirklichen, sagt Raúl Rojas, der an der Freien Universität Berlin Forschungen zur Künstlichen Intelligenz betreibt und seine Maschinen bei den Roboter-Fußballweltmeisterschaften ins Rennen schickt. Fuzzy Control sei nicht das einzige Mittel der Wahl, hätte aber entscheidende Vorteile gegenüber klassischen Regelungstechniken: Sie seien einfacher anzuwenden, und das sei ja auch eine Geldfrage. Außerdem sei Fuzzy-Regelung verständlich, und das "ist von Vorteil, wenn man von der Universität kommt und der Industrie Vorschläge unterbreitet", sagt Rudolf Kruse, der an der Universität Magdeburg Fuzzy-Anwendungen entwickelt.

Doch wie entstehen im Einzelfall die pragmatischen Fuzzy-Regeln? Dafür gibt es im Prinzip zwei Methoden: Entweder man orientiert sich an menschlichen Erfahrungswerten (etwa der Wäschediagnose des Hausmanns), oder man versucht künstliche Systeme zu entwerfen, die diese Regeln selbst finden. Kruse und seine Mitarbeiter bringen Maschinen dazu, sich nach und nach an bestimmte Situationen anzupassen - wie ein Kind, das durch eine schmerzliche Erfahrung lernt: "Wenn ich zu nah an diese komischen schwarzen runden Platten in der Küche komme, tue ich mir weh."

Maschinen "lernen" zum Beispiel mit Neuronalen Netzen, die ähnlich wie das menschliche Gehirn agieren. Neuronale Netze verarbeiten Informationen und passen sich an, ohne dass ihnen ein genauer Plan zugrunde liegt. Ihr Verhalten lässt sich aber in Fuzzy-Regeln fassen, die ähnlich wie die Herdplatten-Schmerz-Regel oder die Schmutzige-Wäsche-Regel aussehen.

Solche "Neuro-Fuzzy-Systeme" finden ihre eigenen Regeln, wenden sie an und modifizieren sie selbstständig, wenn die Umgebung es verlangt - ohne dass ein Programmierer jede Situation bis ins kleinste Detail voraussehen müsste. Das nennt sich Soft Computing, weiches Rechnen, und ist wieder ein Wort des großen Stichwortgebers Lotfi Zadeh.

Hartes Programmieren heißt, dem System von vorn bis hinten alles zu diktieren. Das ist aufwändig; beim Soft Computing ziehen es die Programmierer vor, die Maschine mit weniger Regeln auszustatten - dafür aber mit Vorgaben, die ihr erlauben, bestimmte Schritte selbst zu tun. Mit diesem Prinzip laufen etwa die Programme zur Erkennung von Handschriften in den Briefsortieranlagen der Post, die Rojas und seine Gruppe in Berlin entwickelt haben. Handschriften sind sehr unterschiedlich, und das System muss aus vielen Krakelzügen Ähnlichkeiten herauslesen. Ähnlichkeiten zu erkennen ist ohnehin eine große Aufgabe für die Künstliche Intelligenz, etwa wenn ein System ein Phantombild mit den Bildern einer Verbrecherkartei vergleichen soll. Die Methode wird auch gern für Vorhersagen verwendet, beispielsweise über die Entwicklung des Deutschen Aktienindex (Dax); softe Algorithmen laufen aber auch in medizinischen Diagnosesystemen oder in Musikprogrammen, die ein Musikstück mal traurig, mal fröhlich vorspielen können - besser als viele Musiklehrer.

Lotfi Zadeh sieht für die Zukunft Fuzzy-Anwendungen nicht nur bei der Gesichtserkennung am Bankautomaten, sondern auch bei der Identifizierung von Menschen durch ihre Fingerabdrücke oder sogar den Rhythmus ihrer Tastenanschläge. "Hard computing", sagt Zadeh provokativ, aber freundlich wie immer, "wird es bald kaum noch geben."

Inzwischen mit unzähligen Ehrendoktorwürden und Medaillen geehrt, bereist der 1921 geborene Lotfi Zadeh die Welt und hält unterhaltsame Vorträge, mit einem Lächeln für seine Kritiker und Herzlichkeit für seine Anhänger, immer mit einem neuen Aufsatz in der Tasche. In den neunziger Jahren lieferte der Meister, der immer noch als Professor an der Graduate School in Berkeley tätig ist, das Stichwort Computing with words. Dabei wird den Maschinen beigebracht, mit Symbolen zu operieren, deren Bedeutung den Wörtern der natürlichen Sprache gleichkommt. Damit hatte Zadeh die Vagheit der Sprache bis auf die Programmierebene gebracht, und auch dies wird bereits in die Praxis umgesetzt - etwa beim Data Mining, wenn Computer in großen Informationsbergen nach sinnvollen Zusammenhängen buddeln. Rudolf Kruse beispielsweise hat in Magdeburg Mining-Software entwickelt, die aus über 130 Merkmalen von 18 500 Wagen der Mercedes-S-Klasse ableitet, welche Fehler bei der Kombination bestimmter Ausstattungen auftreten können. Als fiktives Beispiel nennt Kruse, dass die Batterie öfter streiken kann, wenn ein Wagen sowohl über Klimaanlage als auch Schiebedach verfügt. Eine solche Fehleranalyse hilft, vorausschauend zu arbeiten, denn das System fand auch weniger offensichtliche Zusammenhänge, die den Daimler-Technikern nicht aufgefallen waren.

Zadehs Ziel war, das kühle Kalkül der Maschine mit den Begriffen menschlichen Denkens zu verbinden, die sich klarer Definition gern entziehen. Während er dafür von den Hamburger Informatikern geehrt wurde, ging man in den Vereinigten Staaten nicht so freundlich mit ihm um. "Präzision", sagt Zadeh, der in Aserbaidschan geboren wurde, "ist dort heilig", und die Fuzzy-Logik wurde lieber theoretisch zerpflückt, als dass ihre praktische Relevanz gesehen worden wäre. Ganz anders Japan. Gern wird kolportiert, die unscharfe Logik käme dem asiatischen Denken näher. "Unsinn", sagt Rudolf Kruse, "die denken genauso wie wir: Wie entwickelt man schnell ein robustes und kostengünstiges Produkt?" Die Japaner hätten viel schneller erkannt als der Rest der Welt, dass weiche Regelungen einen Marktvorsprung liefern.

Manche Propheten versprachen, dass viele Maschinen in Zukunft mit Unschärfe operieren würden. "Das war ein bisschen zu viel versprochen", sagt Kruse. Still geworden sei es um die krausen Geschichten, weil sie "raus aus der ideologischen Kontroverse und rein in die Praxis" gegangen seien - und dort, um es fuzzy auszudrücken, "ganz schön" erfolgreich sind.

(c) Die Zeit 29/2000

 

(c) Annette Leßmöllmann